Anatomie der weiblichen Lust
Kürzlich besuchte ich einen Vortrag im Volkshaus Zürich von Prof. Dr. sc. nat. Daniel Haag-Wackernagel zum Thema Anatomie der weiblichen Lust. Daniel hat massgeblich zur Erforschung der Sexualbiologie und zur Erarbeitung anatomischer Modelle der weiblichen Genitalorgane beigetragen. Ich teile hier ein paar Entdeckungen, die nach langer Geheimhaltung nun endlich veröffentlicht wurden.
Wiederbelebung der weiblichen Anatomie
Eine detaillierte und anatomisch korrekte Darstellung der Klitoris wurde eigentlich bereits im Jahr 1560 dokumentiert. Doch die Zeichnungen des italienischen Anatomen Bartolomeo Eustachius wurden schubladisiert und erst Jahrhunderte später wiederentdeckt. Alles, was zwischen 1600 und 1950 Aufschluss über die weibliche Lust und Sexualität lieferte, wurde absichtlich ignoriert, verheimlicht und tabuisiert, um ein gesellschaftliches Bild zu wahren, die weibliche Sexualität diene lediglich der Fortpflanzung. Bis heute wird das weibliche Lustorgan in Schul- und Lehrbüchern oft immer noch falsch dargestellt. Erst in den letzten Jahren begann die "Wiederbelebung" anatomischer Erkenntnisse, die zu einem tieferen Verständnis der weiblichen Sexualität und Lust beitragen.
Lustorgan Haut
Die Haut ist das grösste und wichtigste Lustorgan des Körpers. Sie spielt eine zentrale Rolle in der sexuellen Sensorik und bei der Entstehung von Lustempfindungen. Unter der Haut finden sich zahlreiche unterschiedliche Rezeptoren, die auf Berührung, Druck, Dehnung, Vibration und Temperatur reagieren und so ein komplexes Netzwerk sensorischer Rückmeldungen im Gehirn auslösen können.
Eine spezielle Klasse von Rezeptoren, die Berührungen in Erregung und sexuelle Lust umwandeln, sind die sogenannten Genitalkörperchen. Körperstellen wie Lippen, Ohren, Hals, Achseln, Brustknospen, Bauchnabel, Lenden, Füsse, Kniekehlen und der Intimbereich sind besonders dicht mit Genitalkörperchen besiedelt. Dadurch werden diese Hautbereiche zu erogenen Zonen welche zum sinnlichen erwecken der Lust beitragen.
Im weiblichen Intimbereich finden sich Genitalkörperchen an den äusseren und inneren Lustlippen, der Dammregion, dem Analbereich, in der Gebärmutterwand und natürlich in der Klitoris. Mit rund 1.500 Genitalkörperchen pro mm³ ist die Klitorisperle etwa 15-mal dichter mit Sensoren ausgestattet als die männliche Eichel, was die Haut der Klitoris zur empfindlichsten Körperstelle des Menschen macht. Diese Genitalkörperchen reagieren auf Vibrationen im Bereich von 40 bis 80 Hz, wie sie beispielsweise bei einer Massage oder Selbstmassage durch gleitenden Druck ausgelöst werden können.
Die Klitoris
Das bulboklitorale Organ (die Klitoris) ist zu einem grossen Teil verborgen unter der Haut. Von aussen ist die Klitorisperle sichtbar, während der grössere Teil – die Schwellkörper und die Klitorisschenkel – in der Vulva eingebettet sind. Obwohl die Klitorisperle im Verhältnis klein zum gesamten bulboklitoralen Organ erscheint, ist sie über die Hauptnerven äusserst dicht von Nervenfasern durchzogen. Der dorsale Klitorisnerv ist mit einer Dicke von 2 – 3,2 mm fast doppelt so dick wie die Hauptnerven des Penis. Interessanterweise ist der dorsale Klitorisnerv bei jeder Frau unterschiedlich verzweigt. Diese individuelle Struktur könnte erklären, warum Berührungsempfindungen und Reaktionen auf Stimulation von Frau zu Frau so unterschiedlich sind.
Laut Umfragen benötigen etwa 60 % der Frauen direkte Berührung der Klitorisperle, um einen Orgasmus zu erleben.
Sanfte, geziehlte, und regelmässige Stimulation kann die neuronalen Signale und somit die Sensibilität und Empfindamkeit intensivieren und die Durchblutung der Klitoris verbessern. Überstimulation kann kurz oder langfristig zur Desensibilisierung führen. Pausen und sanfte Reize helfen, die Empfindlichkeit wiederherzustellen.
Weibliche Erektion und Orgasmus
Durch Berührung der Klitoris kommt es zu einem verstärkten Bluteinstrom in ihre Schwellkörper. Genau wie bei der männlichen Erektion werden durch die Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO) die Blutgefässe erweitert, wodurch das Gewebe der Schwellkörper anschwellen kann. Während der Erektion kann das Volumen der Klitoris nahezu um 100 % zunehmen. Dies erhöht die Empfindlichkeit und steigert die Lustempfindung bei Berührung.
Die Klitorisschenkel sind von Muskeln umgeben, die beim Orgasmus kontrahieren. Diese Muskelanspannungen verstärken den Druck auf das Schwellgewebe und sorgen so für eine intensive sensorische Rückmeldung. Die sensorischen Reize werden als Nervenimpulse zum Rückenmark geleitet und gelangen von dort in den somatosensorischen Kortex des Gehirns. Hier werden das limbische System und der Insula-Kortex aktiviert, was das emotionale Erleben der Lust intensiviert und die Körperwahrnehmung steigert.
Im "Orgasmuszentrum" des hypothalamischen Bereichs feuern Neuronen in synchronisierten Wellen, was die Ausschüttung von Dopamin, Serotonin, Oxytocin und Endorphinen bewirkt. Dieses Neurotransmitter-Feuerwerk ist für das Glücksgefühl, das Lustempfinden, die Verbundenheit und die Zufriedenheit verantwortlich. Im weiblichen Körper bleibt der Dopaminspiegel nach dem Orgasmus beständig hoch, wodurch die Erregbarkeit erhalten bleibt und multiple Orgasmen physiologisch erlebbar sein können. Im männlichen Körper hingegen dämpft ein enormer Ausstoss an Prolaktin die Wirkung des Dopamins, was die sexuelle Bereitschaft unmittelbar nach dem Orgasmus reduziert und meist eine physiologische Regenerationszeit (Refraktärphase) notwendig ist.
Der „G-Punkt“
Wird oft als eine besonders erogene Zone in der vorderen Vaginalwand beschrieben. Jedoch ist anatomisch und histologisch keine spezifische Stelle in der Vaginalschleimhaut zu finden die besonders dicht mit Nerven oder Empfindungsrezeptoren ausgestattet ist. Forscher vermuten, dass die Stimulation der vorderen Vaginalwand die tiefer liegende Klitoris oder den umliegenden Vagusnerv beeinflussen, was die Empfindlichkeit in diesem Bereich wiederum verstärkt. In den tieferen Hautschichten der Genitalregion befinden sich zudem Pacini-Körperchen, die auf langsamere Vibrationen und Druck reagieren und so eine andere, intensivere Art der Empfindung ermöglichen. Es handelt sich dabei also eher um ein Zusammenspiel verschiedener Körperregionen welche innere Berührungen in der G-Zone als besonders Lustvoll erleben lässt.
Weibliche Prostata, Ejakulation und Squirting
Die weibliche Prostata, auch als paraurethrale Drüsen bekannt, befindet sich rund um die Harnröhre. Eine ihrer Hauptaufgaben ist die Abgabe antibiotischer Substanzen, die den Genitaltrakt vor Infektionen schützen und die Gesundheit des Harn- und Fortpflanzungssystems unterstützen. Beim Orgasmus zieht sich der bulbospongiöse Muskel um die Harnröhre zusammen, wodurch die Paraurethraldrüsen ein Sekret abgeben. Dieses Ejakulat ist oft milchig-weiss und enthält prostataspezifische Antigene (PSA), welche für eine gesunde Immunantwort in der vaginalen Schleimhaut wichtig sind. Bei Squirting handelt es sich um eine Mischung, die oft mehr Flüssigkeit enthält – dabei kann ein Anteil an Urin vorhanden sein, der die Gesamtmenge an Flüssigkeit bei der Ejakulation erhöht.
Schlusswort
Die beeindruckende Komplexität zur Selbstregulation und Anpassung des menschlichen Körpers zeigt sich an folgendem Beispiel: Frauen, welche durch Verletzungen am Rückenmark unter Körperlähmungen leiden, können Orgasmen erleben, obschon die neurologische Verbindung durchs Rückenmark unterbrochen ist. In diesem Falle suchen sich die neurologischen Reize alternative Bahnen übers autonome Nervensystem und den Vagus Nerven, welcher über die neuronalen Netzwerke im Bauchraum ins Gehirn weitergeleitet werden. Ebenso erstaunlich sind Achtsamkeitübungen aus der tantrischen Tradition, wobei durch Konzentration und Sensibilisierung auf beliebige Stellen der Haut, Orgasmusreaktionen im Gehirn ausgelöst werden können.
Sexualität bedeutet also Vielfalt. Jeder Körper und jede Körperstelle ist so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Von chirurgischen Eingriffen, um vermeintlichen Schönheitsidealen im Intimbereich zu entsprechen sollte unbedingt abgesehen werden. Diese können negative Auswirkungen auf die Empfindung und Gesundheit im Intimbereich nach sich ziehen.
Dein Körper verdient es, zelebriert, wertgeschätzt und in seiner Ganzheit und Vollkommenheit gesehen, angenommen und verehrt zu werden. Lust zu erleben ist dein Geburtsrecht. Zelebriert also die Freude an der Lustempfindung. Schaffe Räume welche die Sensibiliserung auf die Empfindsamkeit begünstigen. Lass dich von deiner Sinnlichkeit leiten und erobere dein Vergnügen zurück. Dein Körper kennt den Weg.
Marc Walter