Multiple Orgasmen für Männer
Für viele Männer ist der sexuelle Akt eine Einbahnstrasse in die Ejakulation. Doch einen Orgasmus zu erleben, heisst nicht zwangsläufig, den Samen zu vergiessen. Eine spezielle Technik aus der taoistischen Praxis zeigt, wie es gelingt, den Samenerguss nach innen und die Energie des Orgasmus nach oben zu lenken. Wie Selbstliebe zu echter emotionaler Offenheit führt und wie es gelingt, in der Sexualität multiple Orgasmen oder Herzorgasmen zu erleben, erfährst du in diesem Blogpost.
Ein Experiment
Vor einigen Jahren experimentierte ich in der Selbstliebe mit einer Atemtechnik aus der tibetischen Meditationspraxis. Zu meiner Überraschung erlebte ich einen Orgasmus auf Höhe der Brust, der ohne Ejakulation endete. Danach fühlte ich mich energetisiert und hellwach. Doch es gelang mir nicht, die Erfahrung zu wiederholen, bis ich in einem QiGong-Journal einen Artikel über die geheime, daoistische Sexualpraxis des „Bigu“ las.
Ich bin fasziniert, wie uralte Praktiken heute noch frisch und lebendig erlebbar sind. Anders als vor 4000 Jahren verstehen wir heute besser, welche physiologischen Zusammenhänge für solch intensivierte Körperwahrnehmungszustände verantwortlich sind.
Jugendliche Selbstliebe
Junge Menschen in männlichen Körpern erleben während ihrer Pubertät oft hohe Wellen an Testosteron. Getrieben von der Lust entdecken die meisten Jungs in der Pubertät die Freude am Masturbieren und Ejakulieren. Ein Jugendlicher zwischen 14-15 Jahren onaniert im Schnitt 1.6 mal pro Tag. Das ist ganz normal.
Testosteron steuert unser impulsives Verhalten, sodass der Drang sexuelle Bedürfnisse direkt zu erfüllen steigt. Jugendliche Selbstliebe sieht dann in etwa so aus: Tür zu, Porno an, die Muskeln verkrampft, der Atem angehalten, so schnell wie möglich, bis der Samen fliesst. Das ist nicht wertend, sondern nackte Realität.
Die Spitze des Dopamins fällt nach dem Höhepunkt ins Leere. Energielosigkeit, Erschöpfung, Unlust auf alles, kennt jeder Mann. Bis die nächste Welle von Testosteron die erotischen Bilder im Kopf wiederbelebt.
Über die Jahre entsteht daraus die Gewohnheit, dass Orgasmus und Ejakulation untrennbar sind. Wenn erwachsene Männer schliesslich Sex haben, wiederholen sie in den meisten Fällen denselben Ablauf, den sie bei der Masturbation gelernt haben.
Daoistische Sexualalchemie
Die chinesische Redewendung „Haidi Lao Zhen“ bedeutet „die Nadel vom Meeresboden heben“ und hat die gleiche Bedeutung wie unsere „Nadel im Heuhaufen suchen“. Sie bezeichnet ein Unterfangen, das viel Geduld und Arbeit erfordert.
Der Meeresboden steht symbolisch für den Punkt Huivin (oder auch JenMo) am Perineum, dem Damm zwischen Anus und Hoden. Huivin ist der Verbindungspunkt dreier Sondermeridiane: DuMai (Lenkergefäss am Rücken), RenMai (Dienergefäss an der Vorderseite) und ChongMai (Zentralgefäss in der Mitte), die den Energiefluss im Oberkörper vertikal regulieren. Diese Sondermeridiane werden im Daoismus als kleiner Energiekreislauf genutzt, um die Energie im Körper zirkulieren zu lassen: hinten am Rücken hoch, über den Kopf und vorne am Körper runter. Dieser Energiekreislauf wird auch in der Tao-Massage eindrucksvoll erlebbar.
Der chinesische Begriff „Bigu“ steht für „festes Verschliessen“. Im Bezug auf die sexuelle Praxis meint Bigu das feste Verschliessen des Beckenbodens, um den Verlust des Samens nach aussen zu verhindern. Durch mehrfaches Anheben des Perineums vor dem Höhepunkt kann die Ejakulation kontrolliert und die sexuelle Energie entlang der Sondermeridiane im Oberkörper zum Zirkulieren gebracht werden.
Diese Praxis zur Erhaltung und Transformation der sexuellen Energie wird als Schlüssel zur Selbstpflege und Selbstkultivierung angesehen, welche beim sexuellen Akt die Lebenskraft nicht länger erschöpft, sondern verjüngt.
Physiologie der Ejakulation vs Injakulation
Ejakulation: Während der Penis stimuliert wird, füllt sich die Prostata mit Flüssigkeit. Wenn ihr maximales Fassungsvermögen erreicht ist, zieht sie sich mehrmals schnell zusammen, bis sie wieder auf normale Grösse geschrumpft ist. Die Samenflüssigkeit wird durch rhythmische Aktivität der Beckenbodenmuskulatur, insbesondere des Bulbospongiosus-Muskels, ausgestossen. Gleichzeitig wird die Harnblase verschlossen, um die Beimischung von Urin bei der Ejakulation zu verhindern. Während der Samen durch den Samenleiter im Penis nach aussen abgegeben wird, aktiviert der Nervus pudendus parasympathische Signalwege, die über Nerven im Rückenmark ans Gehirn weitergeleitet werden. Dabei fliesst Blut aus den Schwellkörpern des Penis ab, der Beckenboden entspannt sich, während hormonelle und neurologische Prozesse die sexuelle Erregung aktiv dämpfen. Ein wesentlicher Faktor dieser Dämpfung ist der Abfall des Dopamin- und Testosteronspiegels, während die Freisetzung von Prolaktin aus der Hypophyse stark ansteigt. Prolaktin bewirkt ein Gefühl von Sättigung, reduziert die neuronale Erregbarkeit und leitet das Refraktärstadium ein, eine Art Erholungspause der sexuellen Bereitschaft.
Injakulation: Bei der Injakulation wird die Samenflüssigkeit nicht nach aussen abgegeben, sondern durch Aktivierung der Beckenbodenmuskulatur (PC-Muskel), intern in die Blase umgelenkt. Da keine Samenabgabe durch den Samenleiter erfolgt, wird der Reflexbogen des Nervus pudendus unterbrochen, sodass weniger hemmende Signale an das Nervensystem geleitet werden. Dies verhindert, dass die Hypophyse hohe Mengen an Prolaktin freisetzt. Dopamin- und Testosteronspiegel bleiben höher, die neuronalen Schaltkreise für sexuelle Erregung bleiben aktiv. Der Penis bleibt in einem erigierten Zustand, und es tritt keine unmittelbare Entspannungsphase (Refraktärzustand) ein. Die sexuelle Erregbarkeit wird aufrechterhalten und wiederholte Stimulation bis zum Orgasmus sind möglich.
Die Energie aus der sexuellen Stimulation kann dabei durch Atemtechnik und Vorstellungsarbeit nach oben pulsieren, was die Wahrnehmung im Körper intensiviert. So kann eine erweiterte orgasmische Erfahrung im Herzen, Kopf oder dem ganzen Körper wahrgenommen werden.
Bewusste Selbstliebe – die Praxis
Um die Technik zu erlernen, bedarf es nicht nur Neugier und Interesse, sondern auch Hingabe und Geduld, um gelernte Gewohnheiten abzulegen und das Nervensystem neu zu trainieren. Das gelingt einfacher, wenn die Praxis des Bigu zunächst im Rahmen von Selbstliebe-Ritualen erforscht wird.
1. Vorbereitung: Kreiere einen Raum, in dem du dich wohlfühlst. Stelle sicher, dass du ungestört bist, um eine Zeit lang nackt zu sein. Ja, Wärme, gedimmtes Licht, Kerzen und entspannende Musik helfen auch dem modernen Mann, sich zu entspannen. Lege dich hin oder setze dich bequem auf ein Sitzkissen. Schau zu Beginn, was du gerade brauchst, um voll und ganz in deinem Körper anzukommen. Bewegung, Dehnen, Schütteln, Tönen oder eine Meditation sind Möglichkeiten, um ganz präsent deinen Körper zu spüren.
2. Berührung: Berühre dich am ganzen Körper. Gönne dir eine Selbstmassage, wie du sie magst. Probiere unterschiedliche Berührungsqualitäten am ganzen Körper aus. Versuche, dich nicht sexuellen Fantasien hinzugeben, sondern sei einfach vollkommen präsent in der Berührung. Für Berührungen an erogenen Zonen benutze Gleitmittel oder Öl, das intensiviert deine Empfindung.
3. Atmung: Um die Nadel vom Meeresgrund zu heben, braucht es einen langen Atem. Lasse deinen Atem langsamer, tiefer und kraftvoller werden. Atme durch die Nase ein und aus. Experimentiere, wie lange und langsam du ausatmen kannst. Wenn dein Nervensystem sich entspannt, kannst du dich besser auf deinen Körper konzentrieren.
4. Beckenboden: Ziehe beim Ausatmen in einer einzigen Bewegung den gesamten Beckenboden, inklusive Anus, aufwärts. Beim Einatmen entspanne deinen Beckenboden vollständig. Um die Kraft im Beckenboden zu stärken, hilft es, drei- bis viermal täglich eine Reihe von 15 bis 20 Kontraktionen des Beckenbodens durchzuführen. Ziemlich effizient ist auch das Beckenbodentraining des Gynäkologen Arnold Kegel.
5. Vorstellung: Stelle dir vor, wie beim Einatmen die Energie in der Vorderseite nach unten in deinen Bauch und bis in deinen Intimbereich strömt. Ziehe den Beckenboden hoch und stelle dir vor, wie beim Ausatmen die Energie vom Beckenboden aufwärts durch die Wirbelsäule bis in den Kopf steigt. In diesem Kontext steht „Energie“ symbolisch für die bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit. Konzentriere dich auf noch so subtile Reize wie Wärme, Kribbeln, Pulsieren oder Vibrieren und lasse sie mit deiner Vorstellung und deinem Atem mehrfach zirkulieren.
6. Entspannung in der Erregung: In einem entspannten Zustand gelingt es leichter, wahrzunehmen, als wenn du angespannt oder verkrampft bist. Wenn die sexuelle Erregung steigt, achte darauf, die Muskeln, insbesondere an der Vorderseite deines Körpers, zu entspannen, sodass sich dein Bauch weich und dein Herz weit und offen anfühlt.
7. Injakulation: Wenn du den Drang zu ejakulieren verspürst, versuche frühzeitig den Zeitpunkt vor der Ejakulation zu erkennen. Lasse die Berührungsintensität abflachen, spanne deinen Beckenboden an und lenke in der Vorstellung die Energie entlang deiner Wirbelsäule nach oben. Wiederhole dies so oft du willst, um die Energie in deinem ganzen Körper ansteigen zu lassen. Wenn dein Beckenboden gut trainiert ist, kannst du mit dieser Methode injakulieren, also deinen Samen nach innen ergiessen. Manche Methoden schlagen vor, während der Pumpbewegung deines Beckenbodens mit den Fingern einen leichten Druck auf den Damm auszuüben, um die Ejakulation umzulenken. Das funktioniert gut, sollte aber mit Achtsamkeit praktiziert werden. Gewaltsames, manuelles Blockieren des Samenergusses kann zu Problemen wie Prostatastauung oder Schmerzen führen. Die Lehren betonen, dass die Injakulation nicht zwanghaft erfolgen, sondern auch im Falle einer Ejakulation diese in vollen Zügen genossen und danach ausgiebig integriert werden sollte.
Mit genügend Übung gelingt es, sich wieder von der Technik zu lösen. Wenn du die sexuelle Verbindung zu dir selbst kultivieren möchtest, ist deine innere Haltung und emotionale Verfassung wichtiger als die Technik.
Multiple Orgasmen in der Vereinigung
Injakulation wird zurecht als Schlüssel zu wiederholbaren Orgasmuswellen bei Männern angesehen. Männer mit einem gut trainierten Beckenboden berichten häufiger von multiplen Orgasmen. Doch um als Mann multiple Orgasmuswellen in der sexuellen Vereinigung zu erleben, bedarf es mehr als nur eines kräftigen Beckenbodens.
In der Sexualität sollte es nicht darum gehen, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern das Geschenk der Liebe zu verkörpern. Wenn es dir gelingt, dich dem Gefühl von Liebe hinzugeben, lass dieses Gefühl deine Körpergrenzen überschreiten. Versuche z.B. in einer Umarmung in dein/e Partner/in hinein und durch sie/ihn hindurch zu spüren. Als würdest du beim Einatmen ihre Liebe empfangen und beim Ausatmen zulassen, dass sich deine Liebe ausbreitet. Erweitere deine Fähigkeit zu fühlen, über die physischen Grenzen deines Körpers hinaus. Das ist es, was im tantrischen Sinne gemeint ist mit „Eins werden, sich vereinigen, zu einem Ganzen.“
In männlichen Körpern tendieren wir dazu, in der Sexualität die Aufmerksamkeit mit unserer Sinneswahrnehmung nach aussen zu richten. Dabei übersehen wir oft, dass es unser eigener Körper ist, der uns das Gefühl von Lust, Glück und Liebe empfinden lässt. Wenn du multiple Orgasmen in der Vereinigung erleben möchtest, werde dir bewusst, worauf du deine Aufmerksamkeit in der sexuellen Begegnung richtest, und orientiere dich zu Beginn an deinem eigenen Körper.
Atme tief bis in deinen Beckenboden. Lass deinen Oberkörper weich werden und deine Bewegungen sanft und langsam fliessen. Während du ausatmest, hebe mehrmals bewusst deinen Beckenboden an und stelle dir vor, wie die Energie in deinem Inneren aufsteigt. Wenn du dich einem Orgasmus annäherst, werde ruhiger und langsamer, stelle die Bewegung ein, zieh den Beckenboden hoch und lenke die Energie des Orgasmus die Wirbelsäule aufwärts. Dadurch kann die Erektion und das Bedürfnis zu ejakulieren etwas abklingen.
Wiederhole diese Übung beim weiteren Liebesspiel so oft du magst, um entspannt und offen zu bleiben. Je mehr sexuelle Energie du in deinem Oberkörper zirkulieren lässt, desto intensiver wird sich ein anhaltender Orgasmus anfühlen. Wenn du Herzorgasmen erleben möchtest, dann ziehe bei der Injakulation die Energie hoch und lenke deine Aufmerksamkeit auf dein Herz. Spüre, wie die sexuelle Energie dein Herz berührt und lasse in der Vorstellung die Liebe in alle Richtungen expandieren. Du kannst die aufgebaute Energie beim Orgasmus auch durch Berührung im ganzen Körper verteilen, was dir das Gefühl eines Ganzkörperorgasmus verleiht.
Herzorgasmen oder wiederholte Orgasmuswellen zu erleben, kann insbesondere in der Partnerschaft und Beziehung die Liebesbegegnung vertiefen. Sobald du den Fokus vom Höhepunkt ablegst, kann dies zu einer intensiveren Erfahrung für beide Partner führen und die Intimität sowie emotionale Verbundenheit stärken. Wichtig dabei ist, dass du lernst, Erwartungen abzulegen und in der sexuellen Vereinigung immer mehr selbst zur Liebe zu werden.
Mein Meditationslehrer sagt, dass Sexualität so einzigartig ist, weil wir in diesen Momenten eine Realität erleben, die ausschliesslich durch die direkte Wahrnehmung unseres Körpers entsteht. Daraus entfaltet sich eine echte emotionale Verbindung zu uns selbst und eine tiefere Verbundenheit mit einem anderen Menschen.
Marc Walter
Photocredit: Lene Wichmann Photography